Mittwoch, 19. März 2014

[Rezension] Anna Funder - Alles was ich bin

Anna Funder arbeitet die Geschichte um den vermeintlichen Selbstmord von Dora Fabian und Mathilde Wurm 1935 in London auf. Die Geschichte basiert auf wahren Begebenheiten.
CIMG2180 (2)
Inhalt: Die Protagonisten sind Sozialdemokraten bzw. Sozialisten, Widerständler gegen die NSDAP und oftmals auch Juden: Ernst Toller, seine Geliebte Dora Fabian, deren Cousine Ruth Wesemann/ Becker und ihr Mann Hans Wesemann, aber auch Mathilde Wurm oder Berthold Jacobs. Die Veränderungen in Deutschland zwingen die Protagonisten, ins Ausland zu gehen. Ihre frühe Arbeit gegen das Regime wurde ihnen zum Verhängnis und dennoch haben sie noch Glück, die Flucht rettet ihnen immerhin das Leben. Sie sind nun Flüchtlinge, die im Gastland geduldet, aber nicht geschützt werden. Ernst, Dora, Ruth und Hans verschlägt es nach London, wo sie sich in völlig neue Rollen einfügen müssen. Offiziell ist ihre Aufenthaltsgenehmigung an das Einstellen jeglicher politischer Arbeit gebunden, die Regierungen der Welt weigern sich, Hitlers Machenschaften zu sehen und entsprechend zu handeln. Im Untergrund sind sie aber immer noch für den Untergrund tätig und nehmen die Gefahr der Abschiebung auf sich. Doch ein furchtbarer Verrat zerreißt das mühsam Aufgebaute.
Leseeindruck: Anna Funder lernte Ruth Blatter in Sydney kennen. Die alte Dame erzählte ihr ihre Lebensgeschichte und Funder setzte die einzelnen Teile zusammen und verfasste darauf basierend dieses Buch. Einige Namen änderte sie ab, die prominentesten Figuren sind jedoch erkennbar.
Im Mittelpunkt der Erzählung steht das Leben von Dora Fabian, wodurch das Buch immer wieder an eine biographische Erzählung erinnert. Funder rekonstruiert es einerseits aus den Erzählungen, zieht aber auch schriftliche Dokumente zu Rate. Dennoch nimmt dieser Teil nie zu viel Platz ein, auch das Handeln der anderen Akteure wird entsprechend gewürdigt. Das wird besonders an den Tragödien deutlich, die die Erzählung für jeden Akteur bereithält.
Die Geschichte wird aus zwei Blickwinkeln erzählt. Einerseits aus der von Ernst Toller im Jahr 1939, kurz vor seinem Selbstmord in New York. Er diktiert seiner Sekretärin eine Reihe von Ergänzungen zu seiner Autobiographie. Dabei erinnert er sich an Dora, die seine Sekretärin und seine Geliebte war. Toller ist von Depressionen und Minderwertigkeitskomplexen getrieben, Dora war die Einzige, die ihn verstand und ihm “Linderung” brachte. In seinen Erzählteilen merkt man immer das Gehetzte, teilweise konnte ich beim Lesen eine Art Hysterie spüren, die sehr gut zu diesem Charakter passt. Es fällt aber hauptsächlich auf, weil Ruths Teile eine völlig andere Stimmung haben.
Ihre Teile sind die Erinnerungen einer Frau am Ende ihres Lebens, sehr alt, sehr klug und weise. Mit dem vorangeschrittenen Alter kann sie sich an immer mehr Details aus der Zeit der frühen dreißiger Jahre erinnern. Dabei erzählt sie erschreckend ruhig und sehr bewusst. Selbst wenn sie von Angst, Folter, Morden oder Flucht berichtet ist sie unaufgeregt. Diese Art des Erzählens gefällt mir sehr gut, es ist keine Anklage oder Vorwurf in ihrer Stimme, nur die nüchterne Betrachtung. Ich habe selten ein Buch gelesen, in dem ein Charakter so neutral von den Personen spricht, die sein Leben aus der Bahn gerissen haben und sich geradezu gelassen erinnert. Dadurch wirken die Erinnerungen beim Lesen noch bedrückender und aufwühlender.
CIMG2184 (2)
Fazit: Funder gelingt es, diese stille, unaufgeregte Grundatmosphäre wie einen roten Faden durch das Buch zu ziehen. Dadurch ist das Buch ein beeindruckendes Zeitzeugendokument, der einen romanhaften Charakter beibehält. Zu Beginn hatte das Buch einige Längen, besonders in Tollers Erzählabschnitten, diese waren aber gut zu überwinden. Und trotz der Hoffnungslosigkeit, die man in einem Buch, das während der Zeit der Nationalsozialisten von Flüchtlingen erzählt wird, erwartet, ist da immer etwas in der Erzählmelodie, dass ein gutes Ende zu versprechen scheint.
Ich hatte am Anfang meine Zweifel, ob das Buch Spannung aufbauen kann, da das Ende – der Tod von Dora und Mathilde – ja bereits durch den Klappentext bekannt ist. Doch der Weg dahin erwies sich als so unerwartet, dass sich die Geschichte gut lesen lässt.
Ich lese generell gerne Bücher, in denen mir neue Aspekte von Deutschland in den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren aufzeigen und mir helfen, die Entwicklungen dieser Zeit besser zu verstehen. Die Geschichte ist hervorragend recherchiert und passt sich in die bekannten historischen Ereignisse ein. Dabei wirkt sie nie trocken, sondern erhält immer ein Mindestmaß an Spannung aufrecht. Wer sich für diese Zeit interessiert, dem lege ich dieses Buch ebenfalls wärmstens ans Herz.
Anna Funder – Alles was ich bin
Verlag: S. Fischer
432 Seiten, Hardcover, 19,99€
Leseprobe
kleines Herz gefülltkleines Herz gefülltkleines Herz gefülltkleines Herz gefülltkleines Herz gefüllt
Eure Maike
Rezensionsexemplar – vielen Dank

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen